Die Deutsche Bahn AG hat die Inbetriebnahme von Stuttgart 21 erneut aufgeschoben – und diesmal nicht nur um ein paar Monate. Laut Informationen aus dem Aufsichtsrat und Projektkreisen wird der neue Tiefbahnhof in Stuttgart frühestens zum Fahrplanwechsel im Dezember 2027 starten. Das ist über ein Jahr später als ursprünglich geplant und mehr als acht Jahre nach dem ursprünglichen Ziel von 2019. Die Evelyn Palla, Vorstandsvorsitzende der Deutsche Bahn AG, informierte den Aufsichtsrat am Mittwoch, 13. November 2024, über die neue Realität – doch offiziell bestätigt hat das Unternehmen den Termin noch nicht. Was bleibt, ist eine wachsende Unsicherheit, die nicht nur Bahnpassagiere, sondern auch die gesamte Region betrifft.
Warum genau verzögert sich Stuttgart 21?
Die Hauptursache liegt nicht in Baustellen-Chaos oder Streiks, sondern in einer Software. Die digitale Leit- und Sicherungstechnik, entwickelt vom italienischen Technologieanbieter Hitachi Rail STS, weist nach wie vor kritische Mängel auf. Die Zulassung durch die Bundesnetzagentur ist noch nicht erteilt, weil die Software nicht die strengen Sicherheitsanforderungen für einen Hochleistungs-Bahnhof erfüllt. Das ist kein kleiner Punkt: In einem Durchgangsbahnhof, der später bis zu 400 Züge pro Tag aufnehmen soll, darf kein Signalversagen passieren. Ein Fehler könnte ganze Regionen lahmlegen. Bahnexperte Hans Leister vom Berliner Verein Zukunft Schiene e.V., der über drei Jahrzehnte Erfahrung in der Bahnbranche hat, sagt: „Wenn der neue Tiefbahnhof an den Start geht, wird das ein sehr großer Fahrplanwechsel mit europaweiten Auswirkungen.“ Und genau deshalb darf nichts überstürzt werden.Wer zahlt jetzt – und warum?
Ein weiterer entscheidender Punkt: Die Mehrkosten. Die ursprünglichen Kosten von 2,83 Milliarden Euro sind auf geschätzte 9,15 Milliarden Euro angewachsen – ein Anstieg von über 220 Prozent. Doch das Land Baden-Württemberg, die Stadt Stuttgart mit ihren 635.911 Einwohnern und die Region Stuttgart müssen nicht mehr zahlen. Ein Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart aus dem Jahr 2024 hat klargestellt: Die öffentlichen Partner haben keinen rechtlichen Anspruch auf Kostenteilung. Die Deutsche Bahn AG trägt die gesamte Last – allein. Das ist ein schwerer Schlag für einen Konzern, der 2023 ein Budget von 53,7 Milliarden Euro hatte und 213.000 Mitarbeiter beschäftigt. Die finanzielle Belastung könnte weitere Projekte gefährden – etwa den Ausbau der Ost-West-Verbindungen oder die Modernisierung der Nord-Süd-Achse.Was passiert mit der Gäubahn?
Die Verschiebung hat unerwartete Nebenwirkungen. Die Gäu-Neckar-Bodensee-Bahn, ein regionaler Interessenverband, warnt vor einem ungerechten Kompromiss: Bislang war geplant, dass die Gäubahnstrecke ab März 2027 nur noch bis Stuttgart-Vaihingen führt – und Passagiere dort auf die S-Bahn umsteigen müssten. Das war eine vorübergehende Lösung, um Platz für den Bau des Tiefbahnhofs zu schaffen. Doch jetzt, da der Hauptbahnhof erst 2027 fertig wird, könnte die Gäubahn-Kappung früher erfolgen als der neue Bahnhof. „Das ist niemandem vermittelbar“, sagt Guido Wolf, Vorsitzender des Verbands und Landtagsabgeordneter aus Baden-Württemberg. „Wenn der neue Bahnhof später kommt, dann muss auch die Kappung der Gäubahn nach hinten verschoben werden.“ Sonst wird der Süden der Region abgehängt – während der Fernverkehr bereits in den neuen Bahnhof fährt. Das wäre ein politischer und sozialer Skandal.
Was kommt als Nächstes?
Ein neuer, verbindlicher Termin für die Inbetriebnahme wird voraussichtlich erst Mitte 2025 bekanntgegeben – wenn ein valides Konzept für die Software-Zulassung vorliegt. Bis dahin bleibt die Bahn in der Defensive. Die Öffentlichkeit hat längst das Vertrauen verloren. Die jüngste Verschiebung ist die vierte seit 2010. Die erste geplante Eröffnung war 2019. Dann wurde sie auf 2024 verschoben – dann auf 2025, dann auf 2026, jetzt auf 2027. Jede Verzögerung fühlt sich an wie ein weiterer Tritt ins Leere für die Menschen, die seit Jahren unter Baustellen, Lärm und Unsicherheit leiden. Die Bahn spricht von „nicht vorhersehbaren Dimensionen“ – doch das klingt wie ein Alibi für mangelnde Planung.Die europäische Dimension
Stuttgart 21 ist kein lokales Problem. Es ist ein Knotenpunkt im europäischen Schienennetz. Der neue Tiefbahnhof soll die Verbindung von Paris über Stuttgart nach Wien und Budapest stärken. Jede Verschiebung wirkt sich auf den internationalen Fahrplan aus – auf die Anschlüsse in München, Ulm, Tübingen, sogar bis nach Zürich. Bahnunternehmen aus Österreich, der Schweiz und Frankreich haben bereits ihre Fahrpläne für 2027 vorbereitet – mit dem alten Termin als Grundlage. Jetzt müssen sie alles neu berechnen. Ein solcher Fahrplanwechsel ist kein einfacher Knopfdruck. Es kostet Millionen, tausende Stunden Planungsarbeit und verunsichert Millionen Reisende.
Was bleibt?
Was bleibt, ist die Frage: Wird Stuttgart 21 jemals das, was es verspricht – ein moderner, leistungsfähiger Bahnhof, der die Mobilität der Zukunft ermöglicht? Oder wird es ein Symbol für Überheblichkeit, Planungsversagen und verschwendete Steuergelder? Die Antwort wird nicht in Berlin, sondern in Stuttgart entschieden – in den Köpfen der Menschen, die jeden Tag am Bahnhof warten, ob nun oben oder unten.Frequently Asked Questions
Warum wird Stuttgart 21 immer wieder verschoben?
Die Hauptursache ist die unzureichende Zulassung der digitalen Leit- und Sicherungstechnik von Hitachi Rail STS. Die Software erfüllt nicht die strengen deutschen Sicherheitsstandards für einen Hochleistungs-Bahnhof. Zusätzlich gab es planerische Fehler, Kommunikationslücken und eine Unterbewertung der technischen Komplexität – was zu einer Serie von Verschiebungen seit 2010 führte.
Wer trägt die Mehrkosten von 9,15 Milliarden Euro?
Allein die Deutsche Bahn AG. Ein Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart aus 2024 hat klargestellt, dass das Land Baden-Württemberg, die Stadt Stuttgart und die Region Stuttgart nicht zur Kasse gebeten werden dürfen. Das bedeutet: Die Bahn muss die Kostenüberschreitung von 6,3 Milliarden Euro allein stemmen – ein schwerer finanzieller Druck.
Was passiert mit der Gäubahnstrecke, wenn Stuttgart 21 weiter verzögert wird?
Der Interessenverband Gäu-Neckar-Bodensee-Bahn fordert, dass die geplante Kappung der Gäubahn ab März 2027 ebenfalls verschoben werden muss. Sonst würden Passagiere aus dem Süden vorzeitig abgehängt, während der Fernverkehr bereits in den neuen Bahnhof fährt – ein ungerechter und politisch nicht vermittelbarer Zustand.
Warum ist Stuttgart 21 wichtig für Europa?
Der neue Tiefbahnhof ist ein zentraler Knotenpunkt der transnationalen Achse von Paris über Stuttgart nach Wien und Budapest. Jede Verschiebung wirkt sich auf den europäischen Fernverkehr aus – auf Anschlüsse, Fahrpläne und den Wettbewerb zwischen Schiene und Luftverkehr. Ein funktionierender Bahnhof ist entscheidend für die EU-Ziele einer klimafreundlichen Mobilität.
Wann wird ein neuer Termin bekanntgegeben?
Ein verbindlicher neuer Termin wird voraussichtlich erst Mitte 2025 bekanntgegeben, wenn ein valides Konzept für die Software-Zulassung vorliegt. Bis dahin bleibt die Bahn in der Defensive – denn ohne ein glaubwürdiges Planungskonzept droht ein weiterer Vertrauensverlust bei der Öffentlichkeit und den Partnern.
Hat die Bahn noch Chancen, das Projekt zu retten?
Technisch ja – aber politisch und gesellschaftlich wird es immer schwerer. Die jüngste Verschiebung ist die vierte seit 2010. Die Bevölkerung ist erschöpft, die Medien skeptisch, und die Finanzierung ist belastet. Der Schlüssel liegt jetzt in Transparenz, konsequentem Management und einem ehrlichen Dialog mit den Betroffenen – nicht in weiteren Versprechungen.